Appell an Richter beim Westbahn-Prozess: „Geben Sie unserer Stadt eine Chance!“

Der 4-spurige Ausbau der Westbahn wird massive Auswirkungen auf unsere Stadt haben, wenn die ÖBB die Strecke ohne Einhausung und Tieferlegung umsetzt. Von 29. bis 31. Juli wird in Wien beim Bundesverwaltungsgericht verhandelt, ob das von den ÖBB verfolgte Projekt (ohne Einhausung und Tieferlegung) umweltverträglich ist oder nicht. Im Zuge dieser Verhandlung hat Bürgermeisterin Dr. Sabine Naderer-Jelinek einen eindringlichen Appell an das Gericht gerichtet. Hier kann man ihn nachlesen:

„Vor 100 Jahren gab es weder Handy noch Computer.

Dass wir einmal im Stau stehen werden, weil Familien zwei oder mehr Autos besitzen, war 1919 undenkbar. Und ich bin mir sicher, niemand hätte sich vor 100 Jahren vorstellen können, dass 2019 Österreich von einer Bundeskanzlerin regiert wird.

Warum ich Ihnen das alles erzähle hat einen einfachen Grund: Der 4-gleisige Ausbau der Westbahn ist ein Projekt, von dem die ÖBB selbst sagen, dass die Auswirkungen etwa in den nächsten 100 Jahren zu spüren sein werden.

Einerseits, weil Menschen und Güter schneller, öfter und deutlich zahlreicher abseits der Straße transportiert werden können. Das ist das Positive an dem Ausbau und dahinter steht auch Leonding zu 100 Prozent.

Einschneidendes, historisches Erlebnis
Andererseits wird es aber auch Teile unseres Landes verändern. Leonding gehört dazu. Damit ist der 4-spurige Ausbau auch für uns ein historisches, ich befürchte sogar ein einschneidendes Erlebnis.

Denn wie der Ausbau der Trasse in unserer Stadt erfolgt, wird Einfluss darauf haben, ob wir auf den Zug der Zeit aufspringen und uns zukunftsorientiert entwickeln können. Oder ob die Teilung einer 30.000 Menschen-Stadt als bereits existierende Tatsache abgetan wird, die man mit dem vorgelegten ÖBB-Projekt auf die nächsten 100 Jahre einbetonieren wird.

Haben Sie gewusst, dass schon 2030 etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben wird? Auch in Österreich hat sich der Trend zur Flucht auf das Land inzwischen umgekehrt und schon jetzt leben die Mehrzahl der ÖsterreicherInnen in Städten. Denn in den Städten finden sie Arbeit, eine gute Infrastruktur – von der Krabbelstube bis hin zum Billa ums Eck und Möglichkeiten, sich auch abseits der Arbeit zu erholen und die Freizeit sinnvoll zu gestalten.

Weil uns die Stadt am Herzen liegt
Auch Leonding, 4. Größte Stadt in Oberösterreich, 14. Größte Stadt bundesweit, bietet all diese Vorteile. Mehr als andere. Sicher ist der Grünflächenanteil, der etwa zwei Drittel ausmacht, dafür verantwortlich, dass wir bis vor kurzem österreichweit die Stadt mit dem höchsten Zuzug waren. Aber auch die Tatsache, dass wir uns aktiv darum kümmern, dass diese Lebensqualität erhalten bleibt. Mit uns meine ich den gesamten Stadt- und Gemeinderat, VerterterInnen der Fraktionen sind auch heute hier anwesend, weil ihnen die Zukunft der Stadt am Herzen liegt. Und mit aktiv darum kümmern meine ich, dass wir uns ausführlich Gedanken darüber gemacht haben, wo die Stadt Potenzial hat und was dazu benötigt wird, dieses Potenzial zu heben.

Die Stadt wird zerteilt wie Berlin in den 60ern
Wird das Vorhaben der ÖBB so umgesetzt, wie es jetzt vorliegt, wird Leonding diesem Potenzial beraubt. Anstatt eine geplante Verbindung von Nord und Süd zu schaffen, werden Lärmschutzwände dafür sorgen, dass wir Verhältnisse wie im Berlin der 60er bis Ende der 80er Jahre bekommen werden. Die Stadt wird zerteilt.

Andere Städte, andere Maßstäbe
Im Nachbarort Pasching argumentieren die ÖBB den geplanten Ausbau selbst mit den Worten: Hier bietet sich die Chance, durch eine Anpassung der Streckenführung mehrere Vorteile zu schaffen: Die räumliche Zerschneidung des Ortes Pasching aufheben, Lärm reduzieren sowie ein Zusammenwachsen der Ortsteile und gleichzeitig Chancen zur Siedlungsentwicklung ermöglichen.

Auch in St. Pölten haben die ÖBB 3 Tunnel und 24 Brücken realisiert, um eine Güterzugumfahrung möglich zu machen- Für etwa 60.000 Einwohner um 730 Millionen Euro.

Ähnliches ist nun in Köstendorf geplant. Ein Tunnel so lange wie Katschberg- und Tauerntunnel zusammen, dort leben etwa 20.000 Menschen in den 5 angrenzenden Gemeinden, das Tunnelwerk wird geschätzte 2,3 Milliarden Euro kosten. Und dort wird sogar das Förderband, das zur Errichtung benötigt wird eingehaust, weil es u.a. Lärm für die AnrainerInnen verursacht.

In Leonding geht es um eine Einhausung mit Tieferlegung von 300 und 500 Metern für etwa 30.000 Menschen, die zwischen 40 und 60 Millionen Euro kosten wird, wie ein Schweizer Bahnsachverständiger errechnet hat.

Forderung bereits vor 15 Jahren erhoben
Am 1. April 2004, also vor 15 Jahren, hat die Stadt Leonding die erste Resolution für eine Einhausung und Tieferlegung der Westbahnstrecke in Leonding gefordert. Versprochen wurden Alternativen, gekommen sind sie nicht. Alle Varianten wurden seitens der ÖBB immer direkt durch die Stadt geführt. Die berechtigten Einwände dagegen nicht gehört, mit der Planung einfach drübergefahren.

Hausaufgaben mehr als erledigt

Zahlreiche Gutachten eingeholt, technische Machbarkeiten bewiesen, in Leonding 30 Millionen Euro als Mitfinazierung beschlossen, Investoren gesucht, die die Einhausung nutzbar machen und verwerten wollen und auch Zusagen von Land und Bund eingeholt, sich mit je einem Drittel an den Kosten zu beteiligen.

Und obwohl ein ehemaliger ÖBB-General versprochen hat, dass es kein Projekt gibt, dass nicht mit Leonding abgestimmt ist, haben die ÖBB einfach ihr Ursprungsprojekt eingereicht. Ein Projekt, von dem der beauftragte Sachverständige bestätigt, dass die Zerschneidungswirkung in Leonding problematisch ist.

Mir ist bewusst, dass Sie (Anm.: die RicherIn) darüber verhandeln müssen, ob das Projekt, dass die ÖBB zur Umweltverträglichkeit eingereicht haben, rechtens ist oder nicht. Mir ist darüber hinaus bewusst, dass im UVP-Verfahren Fragen der Stadtentwicklung nicht vorrangig behandelt werden. Verstehen kann ich es aber nicht.

Umwelt ist mehr als die Natur, die uns umgibt
Denn Umwelt ist mehr als die den Menschen umgebende Natur. Umwelt ist alles, was einen Menschen umgibt, auf ihn einwirkt und seine Lebensbedingungen beeinflusst. Demnach wäre die Entwicklung einer Stadt ein besonders relevantes Thema im Rahmen einer Umweltverträglichkeit.

Ich bitte Sie (Anm.: die Richterin), das in Ihren Erwägungen einzubeziehen. Ich bitte Sie, geben Sie meiner und unserer Stadt die Chance, sie auch noch für unsere Kinder lebenswert zu erhalten, indem Sie eine Prüfung des Leondinger Alternativprojektes beauftragen und der Zerschneidung der Stadt mit einer Berliner Mauer eine Absage erteilen.“